Andacht zu Jes 40,26-31
„Männer werden müde und matt“. Es trifft sich gerade so, dass ich diese Andacht am ersten Tag meines Ruhestandes schreibe. Ich bin ausgesprochen dankbar für die Jahre hier in dieser Dorfgemeinde bei Minden. Jetzt gehen sie zu Ende. Am letzten Sonntag wurde ich hier verabschiedet. Auf vielfältige Weise haben die Gemeindeglieder ihre Dankbarkeit für die gemeinsamen Jahre ausgedrückt. Aber es gibt Dinge, derer ich müde bin, richtig müde. Jetzt nicht mehr immer neu versuchen, die Papierflut zu bändigen. Jetzt nicht mehr der Termindruck. Ich bekomme Distanz zu der immer neuen Reformdebatte in unserer Kirche. Es gibt Zwänge, die kann ich jetzt abstreifen. Es ist nicht schlimm, wenn man sich am späten Abend nach getaner Arbeit müde fühlt. Und es ist nicht verkehrt, jetzt, wo ich im Ruhestand bin, andere ausloten zu lassen, was in unserer Kirche auch in Zukunft so gemacht werden soll, wie es schon seit Jahrzehnten gemacht worden ist und wo Neues ausprobiert und umgesetzt werden muss. Die innere Spannkraft gegenüber dem Vielerlei in unserer Kirche nimmt ab, wenigstens bei mir.
Ich kann mir gut vorstellen, wie der Prophet, dessen Namen wir nicht kennen, damals zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft des Volkes Israel nachts zwischen den Zelten der Menschen seines Volkes hin und her ging. Hier hörte er müde und oft genug verzweifelte Stimmen: „Wir sind das dürftige Leben unter der Knute der Babylonier leid!“ „Wann kommen wir endlich hier heraus?“ „Werden wir jemals unsere Heimat wieder sehen?“ „Gott weiß gar nicht mehr, wie es uns hier in der Fremde geht.“ Unser „Weg ist dem Herrn verborgen“ (V.27). Wo Menschen innerlich müde sind und sogar in sich die Stimmen des Unglaubens hören, da dürfen sie das vor Gott aussprechen.
Aber nun bekommt dieser Prophet eine ganz besondere Kraft, um zu diesen Menschen in ihren Bedrückungen zu sprechen. Seine Worte sind so, als legte Gott seinen Arm um die Schultern der Menschen in seinem Volk. Souverän wird der babylonische Sternenglaube beiseite geschoben. Der Schöpfergott Israels ist größer: Tretet mitten in der Nacht aus euren Zelten heraus. „Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehle.“ (V.26)
Die Verheißung Gottes wird kraftvoll erneuert. Diesen matt gewordenen Menschen wird ein majestätischer Auftrieb zugetraut. Die Menschen im Volk Gottes sind nicht wie ein „Würmlein“ (Jes 41,14) und auch nicht wie das unter Christen so beliebte Kuscheltier. Nein, sie sollen und dürfen sein wie ein Adler, ganz gleich in welchem Lebensalter sie sind. Er erhebt sich aus seinem Nest hoch oben in den Bergen frei in den Himmel. „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler.“
In ihrem autobiographischen Roman: „Um Füße bat ich und er gab mir Flügel“ beschreibt Mary Verghese, wie sie kurz vor ihrem Examen als Ärztin bei einem Autounfall querschnittsgelähmt wird. Ihre Füße stehen ihr nicht mehr zur Verfügung, dafür der Rollstuhl. Oft bittet sie Gott um „neue Füße“. Vergeblich. Doch was er stattdessen nach und nach in ihr aufbaut, ist Hoffnung und Lebensmut, Energie und Vertrauen. Sie bleibt an den Rollstuhl gefesselt, aber sie wird eine erfolgreiche Chirurgin für Operationen an Händen und Füßen. Die ihr begegnen, bekommen einen neuen Blick für ihr Leben. So kann und will Gott Menschen führen, die ihm über alles vertrauen.
Hartmut Frische