Andacht 1. Kor 13,9

EVANGELIUMS – RUNDFUNK WETZLAR

Ansprache Nr.:
Sendung Nr.:
Verkündiger: Hartmut Frische
Ort: Lüdenscheid
Text.: 1.Kor.13,9
Thema: Unser Wissen ist Stückwerk

Liebe Gemeinde, liebe Hörerin, lieber Hörer!

In 1.Kor.13 steht der kleine Satz: „Unser Wissen ist Stückwerk.“ Ich halte es für wichtig, sich einmal diesen kleinen Satz anzuschauen. Auch diese Wendung ist Wort Gottes.

Der Apostel Paulus, von dem wir so viele Briefe mit so großartigen und tiefgründigen Erkenntnissen haben, sagt von sich selbst: „Unser Wissen ist Stückwerk.“ Martin Luther, Huldreich Zwingli und Johannes Calvin waren jeder für sich Reformatoren, haben jeder für sich Christus bezeugt, die Fülle des Evangeliums zur Sprache gebracht, mit ihrem Leben dafür gerade gestanden, und doch blieb die Erkenntnis eines jeden von ihnen Stückwerk. Keiner von ihnen kam über den Apostel Paulus hinaus.

Das Wissen der Orthodoxen bleibt Stückwerk, und die Erkenntnisse der Pietisten bleiben Stückwerk. Das Wissen der Evangelikalen bleibt Stückwerk, und die Gedanken der Charismatiker bleiben Stückwerk. Die theologische Bildung der Menschen auf den Kanzeln bleibt Stückwerk, und das Wissen der Menschen unter den Kanzeln bleibt Stückwerk. Die Weisheit der Menschen, die im Glauben alt und reif geworden sind, bleibt Stückwerk. Und auch die jungen Menschen, die erst einige Schritte im Glauben getan haben, haben schon ein Stück weit das Evangelium verstanden.

„Unser Wissen ist Stückwerk.“ – Das ist ein Satz in einem fast vollkommenen Lied. Mitten in seinem Konflikt mit den Gegnern in der Gemeinde in Korinth, mitten in der heftigen Auseinandersetzung hält Paulus inne und singt ein begeistertes Lied über die Liebe. Die gelebte Liebe ist der letzte Maßstab, auch im Verhältnis zu den Gegnern. In der Liebe ragt etwas von der Welt des Vollkommenen in unsere Welt. Wie schön und stark ist das gesagt: „Die Liebe verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ Hier in 1.Kor.13 wird die Größe der Liebe besungen bis hin zu dem Satz: „…aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Oft habe ich über dieses Kapitel aus den Paulusbriefen gepredigt. Aber dabei kam immer dieser kleine Satz dazwischen zu kurz. Und dabei ist er so wichtig.

Aber es geht gar nicht nur um ein kleines Sätzchen zwischendurch, sondern um 4 ganze Verse. An den Vers 9 schließt sich der Vers 10 an: „Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.“ Paulus setzt das Leben jetzt, in dem so vieles bruchstückhaft, fragmentarisch bleibt, von der Ewigkeit ab, in der sich das Vollkommene durchsetzen wird.
Dann folgt der Vers 11:“Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindliche Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindlich war.“ Paulus schaut auf sein Kindsein zurück und erinnert sich daran, wie er, als er ein Mann wurde, manches Kindische abstellen konnte. Er war über das Stadium des Kindseins herausgewachsen. So werden wir einst über das Stadium des stückweisen Erkennens hinaus gewachsen sein.
Der Vers 12 schließt sich an: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort.“ Offensichtlich waren die Spiegel der Antike für unsere Begriffe schlecht und man sah die gespiegelten Personen und Sachen nur unklar und verzerrt. Fast jubelnd fügt Paulus hier hinzu: „Dann aber“ sehen wir „von Angesicht zu Angesicht.“ Und nun wiederholt Paulus: „Jetzt aber erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ Unser bruchstückhaftes, unvollkommenes Erkennen wird in Beziehung gesetzt zu dem vollkommenen Erkennen Gottes, der jeden von uns bis in den tiefsten Grund der Seele liebend durchschaut und gerade so annimmt. In 4 Versen wird die Bruchstückhaftigkeit des Erkennens in die vollkommene Geistesgabe der Liebe hineingezeichnet.

Darum geht es hier: Auch wenn wir Frieden mit Gott gefunden haben, auch wenn wir über das, was wir von Gott erkennen zum Staune gekommen sind und auch wenn wir gewürdigt worden sind, mitten im Kampf unserer Zeit Zeugen Jesu zu sein, unser Erkennen bleibt Stückwerk, noch mehr als das Erkennen des Apostel Paulus Stückwerk geblieben ist.

Unsere Bibel ist von vielen uns bekannten und uns unbekannten Zeugen geschrieben worden. Von jedem gilt, daß sein Erkennen Stückwerk ist. Erst wo die unterschiedlichen Zeugen im Kanon der Heiligen Schrift zusammengestellt worden sind, haben wir das Ganze der Bibel, so wie Gott sie uns geschenkt hat.

Ebenso ist es mit den unterschiedlichen Kirchen und ihren sehr voneinander abweichenden Lehren und Gebräuchen. Ein Mann aus dem evangelikalen Lager unserer Kirche machte Urlaub bei den koptischen Mönchen in Ägypten. Erstaunt wurde er gefragt: Wie kommt es, daß Sie gerade die besuchen? Warum machen Sie gerade Urlaub bei denen? „Ja,“ antwortete er, „wenn ich im Himmel mit den Leuten zusammen sein werde, dann kann ich doch auch schon mal jetzt zu ihnen hinfahren und mit ihnen Gemeinschaft haben.“ Christus ist frei, jeden Teil der Christenheit zum Zeugnis vor der Welt zu gebrauchen. Wir müssen nicht nur über die Zerrissenheit der christlichen Gemeinden und Kirchen klagen. Wir können auch die Christenheit einer Stadt, eines Landes oder gar der Welt ansehen wie ein großes Mosaik, in dem jede Kirche, jede Gemeinde, jedes Werk wie ein eigenständig geformtes, besonders gefärbtes und an eine ganz bestimmte Stelle gesetztes Mosaiksteinchen ist, ohne das in dem Ganzen etwas fehlen würde.

Keiner von uns überschaut das Ganze. Aber Mosaiksteinchen um Mosaiksteinchen können wir kennenlernen, diese oder jene Gemeinde unserer eigenen Richtung, Gemeinden anderer Konfessionen, Mütterhäuser, Missionswerke, Häuser der Stille, diakonische Einrichtungen, Gemeinden anderer Länder. Jede christliche Gemeinde ist ein Stück des Ganzen.. Gott liebt die Welt durch eine Christenheit, in der kein anderer als Jesus Christus selbst der Herr ist und die sich wie ein buntes, großartiges Mosaik darstellt.

Und es lohnt sich, die eigene Gemeinde als ein buntes, großes Mosaik anzusehen und sich klar zu machen, daß man selbst ein Steinchen mit seinen Grenzen, mit seiner Färbung und mit seiner Platzanweisung ist – nicht mehr und nicht weniger. Je gewisser ich mir meines Platzes in diesem Mosaik, meiner Färbung und meiner Ecken und Kanten bin, desto eher kann ich andere mit ihren Ecken und Kanten, mit ihrer Färbung und mit ihrer Platzanweisung stehen lassen und mich an ihnen freuen. Und desto schöner wirkt das ganze Mosaik. Der kleine Satz: „Unser Wissen ist Stückwerk!“ ist und bleibt ein wichtiger Satz in dem großen Lied von der vollkommenen Liebe, mit der Gott uns, die Menschen um uns herum und die ganze Welt liebt.

Einer meiner Lehrer erzählte öfter die Geschichte von dem Gewinner der Goldmedaille im Marathonlauf 1896 bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit in Athen. Der Sieger über die 42 Km lange Strecke war ein Schafhirte aus Griechenland. Er hatte von den großen Wettspielen gehört und auch von der harten Disziplin des Langlaufs. Nun, Laufen, das konnte er. So oft war er Schafen, die sich verirrt hatten, stundenlang durch die Berge nachgelaufen. Das machte ihm so schnell keiner nach. So meldete er sich für den Marathonlauf an. Er startete, lief mit und lag nach der Hälfte der Strecke ganz gut im Rennen. Da kam er an einem Gasthaus vorbei. Weil er Durst hatte, kehrte er ein und bestellte sich einen Schoppen. Die Zuschauer – meist Griechen – schimpften: „Du wirst verlieren, wenn du hier wichtige Zeit vertrödelst.“ Aber so ein richtiger Schafhirte macht sich nichts aus dem Schimpfen der Leute. Er genoss die Pause, löschte mit Vergnügen seinen Durst, lief dann weiter und weiter – und gewann die Goldmedaille.